StartseiteModul KindertransportPhase 2: QuellenarbeitAB - Gruppe 4

Arbeitsblatt - Gruppe 4

ZeitzeugInnen-Berichte

Lory Cahn - Breslau (Polen), Pennsylvania (USA)

Jeden Tag sagte mein Vater: „Pupela, ich möchte nicht, dass du fährst. Aber ich möchte, dass du fährst, weil das gut für dich sein wird.“ Der Tag kam und wir machten uns auf. Meine Mutter und mein Vater kamen mit mir in den Zug und legten meinen Koffer nach oben. Mein Platz war direkt am Fenster, und die deutschen Züge hatten große Fenster. Mein Vater zog es ganz auf, sodass ich mich aus dem Fenster lehnen konnte. Er umarmte und küsste mich. Ich konnte sehen, wie das Gesicht meines Vaters weißer und weißer wurde. Ich dachte: „Hoffentlich geschieht ihm bloß nichts!“ Er sah so schrecklich, schrecklich blass aus, und meiner armen Mutter ging es immer schlechter. Ich konnte es kaum abwarten, dass der Zug losfuhr, weil ich das nicht in Erinnerung behalten wollte. Der Mann kam und schwenkte das Signal. Als der Zug losfuhr, sagte mein Vater: „Pupela, lass mich deine Hände halten!“ Und ich hielt meine Hände fest und sagte: „Ich muss loslassen! Ich muss loslassen!“ „Nein! Ich will nicht, dass du fährst! Ich will nicht, dass du fährst!“ Und wir waren schon … mein Vater konnte nicht besonders schnell laufen, weil er am Stock ging. Es ging ein bisschen weiter, und er fasste mich bei den Händen und zog mich aus dem Fenster. Und ich fiel, ich hätte dazwischen fallen können, zwischen den Bahnsteig und den Zug. Dort war aber nur wenig Platz, ich geriet nicht hinein. Aber ich verletzte mich, blutete und war verzweifelt, absolut verzweifelt. Und mein Vater war im siebten Himmel. Er hatte seine Pupela, sein kleines Mädchen wieder.

 

Da ihr Vater sie aus dem Zug gezogen hatte, gehörte Lory Cahn nicht zu den Kindern, die durch den Kindertransport gerettet wurden. Zusammen mit ihren Eltern wurde sie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Befreit wurde sie im April 1945 in Bergen-Belsen, nachdem sie die Lager Auschwitz, Mauthausen und Buchenwald sowie einen Todesmarsch überlebt hatte.

Quelle: „Into the Arms of Strangers“ (36:03-37:55 min)

Lore Segal - Breslau (Polen), VK, New York (USA)

Ich erinnere mich, dass am letzten Abend alle Cousinen und alle Tanten kamen, um Abschied zu nehmen. Eine Tante, die Zwillinge hatte, war äußerst wütend auf meine Eltern: Für mich hatten sie zwar einen Platz bei dem Transport bekommen, es war ihnen aber nicht gelungen, auch die Zwillinge darin unterzubringen. Trauer und Panik und Wut waren im Raum. Es gab einen Moment, da nahm mich mein Vater zwischen seine Knie und sagte: „Wenn du nun also nach England kommt, musst du mit allen englischen Leuten, die du triffst, sprechen. Du musst sie bitten, deine Mutter und mich herauszuholen, und deine Großeltern“. Und weil diese Tante dabei war, und sie so unglücklich und verärgert gewesen war, sagte er: „Und Tante Sowiesos Zwillinge.“ Wenig später hatte ich eine Liste von Personen, und ich mit meinen zehn Jahren hatte versprochen, sie vor Hitler zu retten.

Jedes Kind erhielt eine Nummer. Meine Nummer – und ich habe sie noch –, war die 152. Diese Nummer trug jedes Kind um den Hals, und dieselbe Nummer wurde an unserem Koffer befestigt. Da standen wir nun in unseren, ich meine, Fünfzigergruppen. Meine Mutter und mein Vater waren da. Meine Mutter unterhielt sich die ganze Zeit mit mir, als ob da etwas ganz Gewöhnliches und Interessantes geschah. Ich erinnere mich, dass sie einen Ponyfellmantel mit Fuchskragen trug. Ihr Gesicht steckte in dem Fuchskragen. Und ich weiß noch, dass sie zwar so sprach, als wäre alles ganz normal. Ihr Gesicht aber, daran erinnere ich mich, war heiß. Es war rot und heiß.

Quelle: „Into the Arms of Strangers. Stories of the Kindertransport“ [Warner Brothers, 2000], (31:30-32:36 min; 33:04-33:53 min)

Über Paula Fürst, eine Reisebegleiterin deutscher Kinderflüchtlinge

„Paula Fürst, ehemals Leiterin der Theodor-Herzl-Schule, sollte am 3. August 1939 einen Kindertransport nach England begleiten. Zur Überraschung ihrer Freunde kehrte sie nach Deutschland zurück, weil sie nicht so recht gewusst hätte, was sie in England anfangen sollte. In Berlin hatte sie ihre Pension, ihre Freunde. Im Ausland aber? So wie sie haben viele deutsche Juden gedacht.”

Quelle: Outcast. A Jewish Girl in Wartime Berlin/ Inge Deutschkron, S. 58 (Deutsche Ausgabe: Ich trug den gelben Stern, Inge Deutschkron, S. 54)

 

 

Bertha Leverton geb. Engelhard - München (Deutschland), London (VK)

Wenn man so über die Jahre zurückblickt, fallen einem normalerweise nicht die alltäglichen Dinge ein, die man erlebt hat, sondern die besonders schönen oder traurigen Ereignisse. Sie können in den Hintergrund treten, aber vergessen wird man sie nie.

Die Erinnerung an die fünf Jahre, die ich bei meiner Pflegefamilie verbrachte, kann niemals ausgelöscht werden. Positiv ist aber, dass sie auch meinen jüngeren Bruder Theo (zwölf Jahre) und meine Schwester Inge (neun Jahre) aufnahmen. Bei meiner Ankunft in England war ich erst fünfzehn.

Die Behandlung, die ich durch „Tantchen Vera“ erfuhr, kann ich inzwischen darunter verbuchen, dass sie als Halb-Invalidin einen Groll gegen meine gute Gesundheit hegte. Doch ihre Quälereien uns und vor allem mir gegenüber waren nichts im Vergleich zu „Onkel“ Billys „Aufmerksamkeiten“, denen ich mich fünf Jahre lang erfolgreich entziehen konnte. Das erste Jahr war erträglicher. Weil die Coventry Cathedral unser Sponsor war, lebten wir in Coventry. Von einem jüdischen Flüchtlingskomitee wussten wir nichts. Theo hatte jedoch seine Bar Mitzvah in der kleinen schul in der Barras Lane, und an den Sederabenden waren wir beim Rabbi eingeladen.

Doch nach der Rückkehr mit einem Päckchen Matzót war die Sehnsucht nach echtem jüdischem Familienleben umso schwerer zu ertragen. Die wenigen Male, die wir zum Sabbatgottesdienst gehen durften (ein Fußmarsch von mehr als drei Kilometer), schien keiner aus der kleinen Gemeinde die drei einsamen Kinder zu bemerken, die sich so sehr wünschten, am jüdischen Leben teilzuhaben. Eines Tages kam Theo weinend und humpelnd aus der Schule. Er war in einen Bombenkrater gefallen. Mehrere Tage zwang man ihn, zur Schule zu gehen, und sagte ihm, er solle nicht so eine Heulsuse sein. Auch mir wurde gesagt, ich solle nicht albern sein, als ich vorschlug, er solle zu einem Arzt gehen. Schlussendlich schwoll sein Fuß so stark an, dass ein Arzt kommen musste. Es wurde festgestellt, dass mein Bruder tagelang mit einem gebrochenen Knöchel umhergelaufen war.

Inges kleine Arme waren oft voll blauer Flecken, weil Tantchen sie für irgendwelche kleinen Ungezogenheiten gekniffen hatte. Wenn wir zum Essen in die Küche verbannt wurden, hat uns das nicht im Mindesten gestört.

Nach den Luftangriffen auf Coventry wurden wir mit der Familie in eine Kleinstadt in Yorkshire evakuiert. Jetzt waren wir wirklich von jedem Kontakt zu Juden abgeschnitten. Dort muss es aber ein Komitee gegeben haben, das von uns wusste, denn ich erinnere mich, dass zweimal im Jahr ein junger Rabbi zu uns kam. Er hatte die Aufgabe, Kinder in nicht-jüdischen Haushalten zu besuchen. Sich bei ihm über unsere Behandlung zu beschweren, war sinnlos: Unser Wort stand gegen ihres, und inzwischen waren wir so eingeschüchtert, dass wir unser Los einfach akzeptierten.

Man schickte mich in eine nahegelegene Baumwollspinnerei arbeiten. Abends und am Wochenende machte ich Hausarbeit. Theo arbeitete in einer Fabrik, seit er vierzehn war. Inge ging zur Schule und erhielt ein Stipendium. Ich ging gerne arbeiten, denn so kam ich von „zu Hause“ weg, und die Mädchen bei der Arbeit waren nett und akzeptierten mich. Wir arbeiteten im Akkord, und nach kurzer Zeit verdiente ich Spitzentarife. Theo und ich mussten unsere Lohntüten allerdings verschlossen abgeben und bekamen für jedes verdiente Pfund eine halbe Krone ausbezahlt – ein Achtel! Aber das war nur theoretisch so, denn nach einem Tag oder so wurde auch diese kleine Summe zurück-„geborgt“ und nie mehr zurückgezahlt.

Es gab Zeiten, in denen wir aufbegehrten und unerhörte Dinge taten, wie beispielsweise nach unseren Bezugsscheinen für Süßes zu fragen. Tantchen fiel dann in „Ohnmacht“ und warf uns vor, ihre Gesundheit zu untergraben und undankbar zu sein. Tantchen und Onkel spielten gerne Monopoly. Nur zu zweit machte das allerdings wenig Spaß, weshalb sie uns meist zum Mitspielen aufforderten. Wie wir schnell herausfanden, mochten sie es nicht, wenn wir gewannen, und schikanierten uns hinterher. Wir entwickelten daher eine ausgefeilte Strategie des Verlierens. Tantchen und Onkel freute das, uns brachte es Leckereien wie Tee und Kekse ein oder einige Süßigkeiten.

Ich erinnere mich an eine wunderbare Woche im Januar: Tantchen und Onkel fuhren ihre Mutter in Coventry besuchen und wir durften unsere Lohntüten öffnen und unser Taschengeld herauszunehmen und ein klein wenig extra für Lebensmittel. In diese Woche fielen mein einundzwanzigster und Inges vierzehnter Geburtstag. Wir fuhren in die nächstgelegene Stadt nach Oldham. Mittags aßen wir Eier, Bohnen und Pommes frites in einem Café. Wir sahen uns die Sehenswürdigkeiten an und gingen ins Schwimmbad, wo ich Inge das Schwimmen beibrachte. Dann ließen wir uns fotografieren. Das Glück und die Freiheit an diesem Geburtstag werden mir für immer im Gedächtnis bleiben. Aber es stand uns sogar noch mehr Glück bevor.

Unseren Eltern war 1940 die Flucht gelungen. Nachdem sie fünf Jahre unterwegs gewesen waren, endete ihre Reise in Portugal. Der Krieg dauerte an. Das Parlament hatte ein Gesetz verabschiedet, laut dem nahe Angehörige aus neutralen Staaten nach England reisen durften, sofern sie dort Kinder unter fünfzehn hatten. Auf Inge traf das zu. Tantchens Mutter (die Pensionen betrieb) hatte ein weiteres Haus in Coventry gekauft, als sie vom Kommen unserer Eltern hörte. Sie sollten dort als Hauswirtschafter eingestellt werden, damit sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Doch dann kamen sie an und sahen, in welcher Verfassung wir waren. Ich hatte keine richtigen Schuhe, sondern nur die Holzschuhe für die Arbeit in der Baumwollspinnerei, wo sie die übliche Fußbekleidung waren. Es gab einen schrecklichen Krach. Wir Kinder hatten beschlossen, nichts Schlechtes über Tantchen und den Onkel zu sagen, aber in der Nacht hatte mir Mutti die ganze Geschichte aus der Nase gezogen. Inge hatte ihr Deutsch komplett vergessen und Theo den größten Teil. Eltern lassen sich nicht täuschen. Wie es Papa gelang, werde ich nie erfahren, aber über das Dorftelefon stellte er, der kein Englisch sprach, Kontakt zum nächstgelegenen Flüchtlingskomitee in Manchester her. Sie kamen innerhalb von zwei Stunden und brachten uns fort. Meine Eltern bestanden darauf, dass man mir unterwegs ein Paar Schuhe kaufte. Das geschah wenige Tage nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag.

Als ich kürzlich meine Akten von der CBF[1] kaufte, stellte ich fest, dass man uns wegen Beschwerden über unsere Pflegeeltern als Störenfriede bezeichnet hatte.

Eine neue, glückliche Phase begann. Wir ließen uns in Birmingham nieder. Ich habe geheiratet und eine Familie gegründet und habe zwei Töchter und neun wunderbare Enkelkinder in England und Israel. Aber auch das Wort Tragödie ist mir nicht fremd, denn ich habe einen wunderbaren Sohn, Danny, verloren, als er einundzwanzig war. Außerdem ist Theo mit dreiundvierzig Jahren gestorben. Aber ich tröste mich mit dem Wissen, dass ich ihre Gräber und das meiner Eltern besuchen kann – ein Trost, der unglücklicherweise so vielen aus meiner Kindergeneration versagt ist.

 

[1] Der „Central British Fund for German Jewry“ (CBF, Zentraler Britischer Fond für das deutsche Judentum) wurde 1933 zur Unterstützung der deutschen Juden unter der Nazi-Herrschaft gegründet und spielte eine wichtige Rolle bei der Durchführung des Kindertransports. Die Organisation besteht heute unter dem Namen „World Jewish Relief“ fort.

Quelle: I came Alone. The Stories of the Kindertransports. Editor, Bertha Leverton. Book Guild, 1990, pp. 182-184.

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